Begrüßungsrede von David Adelmann

Sehr verehrte Damen und Herren,

Auschwitz! Auschwitz ist ein unglaublicher Ort. Ich bin an diesen Ort gekommen ohne den Hauch einer Ahnung zu haben, was ich dort erleben würde. Ich konnte es nicht ganz fassen, als ich am zweiten Tag der Fahrt das erste Mal durch das Tor des Stammlagers Auschwitz I gegangen bin. Der inzwischen weltbekannte Spruch: „Arbeit macht frei“ hat noch einmal deutlich gemacht, dass ich jetzt wirklich da bin. An dem Ort, an dem vor nicht allzu langer Zeit Millionen von Menschen umgekommen sind. Der Gedanke an das, was dort passiert ist, der Gedanke an die zahllosen Menschen, die dort grundlos ihr Leben lassen mussten, will bis heute nicht ganz in meinen Kopf.

Als wir in Oświęcim angekommen sind, war ich überrascht. Ich hatte irgendwie nicht erwartet, in einer normalen Kleinstadt mit normalem Leben anzukommen. Aber da stand ich, umgeben von normalen Häusern und normalen Einwohnern. Das einzige, was drauf hindeutet, dass wir nicht in einer Stadt wie jeder anderen sind, war das Stammlager, an dessen Mauer wir am ersten Tag vorbei gegangen sind.  Das war wohl eines der seltsamsten Erlebnisse dieser Fahrt: ein ehemaliges KZ umstellt von Wohnhäusern und einer Straße. Dieses Thema hat mich den Rest des Tages begleitet und mir kam immer wieder die Frage, wie man bitte in dieser Stadt leben könne? Denn man kann die Geschichte seines Wohnortes nicht einfach ausblenden, andererseits ist die Geschichte von Auschwitz nicht etwas, worüber man gerne nachdenkt. Doch scheinbar haben es einige Menschen geschafft, eine Balance zwischen dem Erbe der Stadt und dem Führen eines normalen Lebens zu finden.

Dieses Gleichgewicht konnten wir auch immer wieder in den Lagern selbst beobachten. Die Menschen, die dort arbeiten, haben ihr Leben darauf fokussiert, den Holocaust aufzuarbeiten. Dabei haben sie es geschafft, eine respektvolle Distanz aufzubauen, die ich einfach nur unglaublich finde. Ich habe mir im Verlauf dieser Fahrt auch des Öfteren diese Distanz gewünscht, denn es ist nicht einfach, mit einem klaren Kopf durch Auschwitz zu gehen. Ich hatte immer wieder das Gefühl, nicht dort hinzugehören. Immer wieder kam der Gedanke an die tausende Opfer des Holocausts und immer wieder der Gedanke, dass ich jetzt durch diesen Ort laufe. Besonders stark wurde dieses Gefühl im Hof von Block 11, dem Block, in dem die Gestapo damals Häftlinge bis zum Tode gefoltert hat. Im Hof von Block 11 war damals ein Hinrichtungsplatz, auf dem hunderte Menschen erschossen wurden. Es kam mir so unwirklich vor, an diesem Ort zu stehen, mit dem Wissen um das, was dort geschehen ist. Verschlimmert wurde dies nur noch durch eine Geschichte, die uns unser Tour-Guide kurz darauf vorlas. Es war der Augenzeugenbericht eines Mannes, der zugesehen hatte, wie eine Familie nacheinander von einem Soldaten erschossen worden war.

Wenn man solche Geschichten in der Schule hört oder in Büchern liest, gibt es immer wieder diese kleine Stimme im Hinterkopf, die einem einreden möchte, dass so etwas nicht passieren kann und ich falle dieser Stimme häufig anheim. Doch seitdem ich den Fuß durch das Tor des Stammlagers gesetzt habe, ist diese Stimme verstummt. Jetzt war ich da, an dem Ort wo diese Gräueltaten verübt wurden. Ich kann nicht mehr darauf hoffen, dass das Ganze nur ein gewaltiger Irrtum ist, weil ich jetzt dar war. Weil ich den Ort mit eigenen Augen gesehen habe. Und das macht Auschwitz nur noch schlimmer. Doch ist meine Erinnerung von Auschwitz nicht nur vom Schrecken der Vergangenheit geprägt, sondern auch von der Arbeit der Historiker und Augenzeugen. Die Bedeutung ihrer Leistung ist mir erst recht spät aufgefallen. Denn sie scheint von außen unwichtig, ja sogar banal.  Ich spreche von der Arbeit, den zahllosen Opfern wieder einen Namen zu geben. Diesen 6 Millionen ihre Identität wieder zu geben.

Diese Arbeit ist meiner Meinung nach die wichtigste in der gesamten Holocaustforschung. Denn Menschen waren noch nie gut darin, etwas aus Zahlen zu lernen. Man hört 6 Millionen und man versteht, dass es wirklich viel ist. Man ist erschrocken und fragt sich, wie so etwas passieren konnte, doch die meisten Menschen werden dann nicht weiter forschen. Sie schütteln den Kopf und leben weiter. Dies ist auch nicht verwunderlich oder irgendwie schlimm. Jeder Mensch hat mit seinem eigenen Leben genug um die Ohren und hat nicht die Zeit, sich weiter damit zu beschäftigen. Auch mir ging es so. Ich hatte zwar schon etwas über den Holocaust gehört und auch die Zahl 6 Millionen kannte ich. Doch hatte ich bis zur Fahrt keine Ahnung, was hinter dieser Zahl steckt. Mir wurde die tatsächliche Größe erst im Stammlager klar. Erst riesige Mengen an Haar, Brillen, Schuhen. Dann ein Buch. Ein Buch mit tausenden Seiten. Alle bedeckt mit den Namen der Holocaustopfer. Erst als ich dies gesehen habe, wurde mir klar, was diese 6 Millionen tatsächlich bedeuten. Und diese Feststellung wurde durch die weiteren Erlebnisse der Fahrt nur noch verstärkt:

Das letzte dieser Erlebnisse war das Zeitzeugingespräch in Krakau. Lidia Makymowicz, die uns ihre Geschichte erzählt hat, war für mich ein Fenster in die Vergangenheit. Sie ist der unwiderlegbare Beweis für den Holocaust. Und diesen Beweis braucht man, wenn man wirklich verstehen möchte, was damals passiert ist. Denn Bücher oder Filme sind eine Sache, aber von einem lebenden Menschen, von Angesicht zu Angesicht, erzählt zu bekommen, was damals passiert ist... Das macht es einem noch einmal klar. Es ist passiert und es darf nie wieder passieren.

Und hier liegt die Aufgabe der heutigen Generation.

Wir als die Letzten, die mit Augenzeugen sprechen können, müssen ihre Geschichten bewahren und bereit sein, sie den kommenden Generationen zu erzählen. Denn sie werden nur Bücher und Filme haben. Dann müssen wir ihnen das Fenster in die Vergangenheit sein. Wir müssen Zweitzeugen werden und, so gut es uns möglich ist, die Aufgabe der Augenzeugen weiterführen.