Auch in diesem Jahr begingen wir diesen besonderen Tag mit einer Veranstaltung in der Aula: Zu Gast war der Schriftsteller Reiner Engelmann mit seinem erst 2018 erschienenen Sachbuch Der Buchhalter von Auschwitz – Die Schuld des Oskar Gröning. Es ist wichtig, sich nicht nur die Perspektive der Opfer, sondern auch die der Täter anzusehen – das zeigte uns Reiner Engelmann, als er bei uns seine Lesung hielt. Er erzählte davon, wie er Daten und Fakten über Oskar Gröning – der am 15. Juli 2015 im Alter von 95 Jahren vom Landgericht Lüneburg wegen Beihilfe zu 300.000-fachem Mord zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wurde – sammelte, um ein Buch über ihn zu verfassen.
Engelmann berichtete von Grönings Ambitionen, der Armee beizutreten und für sein Land zu kämpfen. Als Siebzehnjähriger begann Oskar Gröning eine Ausbildung zum Bankkaufmann, wo er früh zum Buchhalter befördert wurde, und er trat 1940 freiwillig in die Waffen-SS ein. Einige Jahre später bekam er einen Sonderauftrag, für den er eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben musste und Ende September 1942 wurde er dann ins KZ Auschwitz versetzt. Aufgrund seiner vorherigen Banklehre wurde er dort der Häftlingseigentumsverwaltung zugeteilt. Nach einiger Zeit begann Gröning sich zu wundern, warum kein einziger Gefangener wieder entlassen wurde – wie es ihm zuvor gesagt wurde – und man erzählte ihm, dass in Wahrheit niemand das KZ je wieder verließ. Er wurde hier Zeuge der Massenmorde durch Gas, erlebte, wie Säuglinge brutal ermordet wurden und wie dies alles keinen seiner Mitarbeiter wirklich zu stören schien. 1943 heiratete er die Verlobte seines Bruders, der in der Schlacht von Stalingrad starb, und bekam noch während seiner Dienstzeit in Auschwitz zwei Kinder mit ihr.
Engelmann erzählte auch, wie Oskar Gröning insgesamt drei Versetzungsanträge an die Front stellte, um seiner Arbeit im Vernichtungslager zu entrinnen und schließlich zu einer Feldeinheit versetzt wurde. Am Ende des Krieges wurde er von britischen Truppen gefangen genommen. Der Chor, dem er in der Gefangenschaft beitrat, gab später in Schottland Konzerte und war gerne dort gesehen.
Nach seiner Entlassung kehrte Oskar Gröning in seine Heimatsstadt zurück, wurde dort ehrenamtlicher Richter und arbeitete am Arbeitsgericht Nienburg. Engelmann berichtete davon, wie Gröning einen Brief verfasste, in dem er von seiner Zeit in Auschwitz erzählte, und diesen an alle seine Nachbarn verteilte in der Hoffnung, dass auch nur ein einziger mit ihm darüber sprechen würde. Der einzige Nachbar, der kam, klopfte ihm lediglich auf die Schulter und kommentierte, dass er es schwer gehabt haben müsse. In seinem Interview mit dem britischen Nachrichtensender BBC und dem Spiegel sagte Oskar Gröning: „Ich habe die Krematorien gesehen, ich habe die offenen Feuerstellen gesehen. […] In Auschwitz sind 1,5 Millionen Juden ermordet worden. Ich war dabei.“ Er starb im März 2018, ohne seine Strafe angetreten zu haben.
Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen EF und Q1 gebannt zuhörten und die Aula – trotz der vielen Personen – vollkommen still blieb, als Reiner Engelmann erzählte. Reiner Engelmann hat es sich zu seiner Aufgabe gemacht, die Nachwelt auch über die Perspektive der Täter aufzuklären und das ist ihm gelungen. Unter dem Banner „Erinnern für die Zukunft“ verfasste er unter anderem das Buch „Der Buchhalter von Auschwitz – Die Schuld des Oskar Gröning“, das er bei uns am MSM vorstellte.
Cheyenne Carlé (Q1)